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75 Jahre Grundgesetz: Kein Grund, selbstgerecht die Hände in den Schoss zu legen:Die vier Mütter des Grundgesetztes

Man traf sich im naturhistorisches Museum König in Bonn, im Raum „Savanne“ - umgeben von ausgestopften Zebras, Elefanten und Giraffen. Wir schreiben den 1. September 1948. Es handelt sich nicht um einen Museumsbesuch, sondern es ist der Schauplatz der ersten Versammlung des sogenannten Parlamentarischen Rates, der von den westalliierten Siegermächten beauftragt wurde, eine demokratische Verfassung zu erarbeiten.

Diese sollte - als Lehre aus der Geschichte und im Sinne der Vorbeugung vor absoluter Machtkonzentration - eine stark föderale Struktur haben, damit die Macht möglichst breit verteilt wird, auf Bund und Länder, aber auch durch Gewaltenteilung. Dies trug schnell erste Früchte: die schon existierenden Landtage setzten durch, dass es keine Verfassung, sondern „nur“ ein Grundgesetz geben solle, damit eine baldmögliche Wiedervereinigung mit der sog. „Ostzone“ möglich sei.

Warum ausgerechnet im Museum? Weil dies das einzige repräsentable und nicht beschädigte Gebäude in Bonn im damaligen Trümmerdeutschland war. Schauplatz der eigentlichen Beratungen war dann die nahegelegene pädagogische Akademie, die im Nachhinein mit ihrem nüchternen Bauhaus-Stil zum Sinnbild des Neuen geworden ist.

61 Männer und 4 Frauen des Rates hatten zum Teil am eigenen Leibe erlebt, was passiert, wenn die staatliche Gewalt das Recht nach Gutdünken verbiegen und brechen konnte. Nicht umsonst wurden die in Artikel 1 GG aufgeführten Grund- und Menschenrechte sowie die in Art. 20 GG genannten wichtigsten Staatsprinzipien (Demokratie, Bundesstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit) mit der „Ewigkeitsklausel“ versehen. Die damit abgesicherten Rechte und Prinzipien können von keiner Regierung außer Kraft gesetzt werden. Auch darüber wacht das Bundesverfassungsgericht, für dessen Einrichtung sich u.a. Elisabeth Selbert, eine der „Mütter des Grundgesetzes“, stark gemacht hat.

Wir reden so selbstverständlich von „Müttern des Grundgesetzes“. Aber: so selbstverständlich war das nicht. Es sind nur vier Frauen, und die sind auch nur deshalb dabei, weil die Männer nach dem Krieg an den Frauen nicht mehr so ohne weiteres vorbeikamen. Warum? Wegen der rd. 400 Millionen Kubikmeter Schutt, den die Frauen mit bloßen Händen, mit Schaufeln und Schubkarren aus den zerbombten Häusern und Gebäuden der deutschen Städte weggeräumt und aufgeräumt haben. Diesen Berg, der symbolisch für die Macht der Trümmerfrauen steht, für ihr Durchhaltevermögen auch schon während des Krieges, ihren Willen zum Wiederaufbau und Neubeginn, den konnte man nicht mehr kleinreden und übersehen.

Nicht nur mit ihrer Hände Arbeit, sondern auch auf geistiger und rechtlicher Ebene gab es beherzte Frauen, die andere Hürden aus dem Weg geräumt haben. Dazu gehörten sicher auch die vier „Mütter des Grundgesetzes“: Elisabeth Selbert (die Texterin - Juristin im Grundsatzausschuss),
Frieda Nadig (die Umsetzerin – später MdB),
Helene Weber (die Netzwerkerin - Mitglied im Zentralvorstand des Kath. Deutschen Frauenbundes, baute die CDU mit auf) und
Helene Wessel (die Unbequeme - erste weibl. Vorsitzende einer Partei in Deutschland).

Diesen vier Politikerinnen ist es zu verdanken, dass der Passus „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ im Grundgesetz festgeschrieben wurde. Dafür brauchte es aber eine Menge Überzeugungsarbeit. Selbert setzte auf Öffentlichkeitsarbeit und überparteiliche Frauenvereinigungen, und, was sicher auch seine Wirkung nicht verfehlt hat, auch auf die Frauen der 61 Gründungsväter… Letztlich führte ein Kompromiss zum Erfolg: der Satz wurde im Grundgesetz festgeschrieben, aber das zugehörige Familienrecht sollte erst später reformiert werden.  
Seit dem 23. Mai 1949 gilt die verfassungsmäßige Gleichberechtigung von Männern und Frauen, die rechtliche Umsetzung in allen Bereichen, insb. im Familienrecht, dauert immer noch an.

Erst seit 2017 gilt das Gesetz für mehr Lohngerechtigkeit: „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Dafür traten die Mütter des Grundgesetzes, insb. H. Weber und F. Nadig, schon vor 75 Jahren ein…

Jetzt noch einmal zurück zum Raum „Savanne“: Wenn unsere Demokratie nicht zu einem Museumsausstellungsstück werden soll, dann ist es Zeit für Engagement:

„Es liegt an uns“, betonte Joachim Gauck bei einem Festakt in Bonn 75 Jahre später am 1.9.2023 immer wieder. Demokratie brauche „den Bürger, der den Staat nicht nur als Fürsorgeinstitution begreift, der ihn gegen möglichst alle Risiken im Leben absichert, sondern der sich selbst zum Mitgestalter des Gemeinwesens erklärt.“

Aktuell merken wir allenthalben, wie Demokratie gefährdet ist. Laut Bundestagspräsidentin Bärbel Bas sollten Parteien und Parlamente neue Wege ausprobieren, Menschen einzubeziehen. Abgeordnete sollten mit einer Sprache sprechen, die verstanden werde. Und: Man müsse zusammenstehen gegen jene, „die ein Land wollen, in dem die Würde des Menschen eben nicht unantastbar ist.“

Auch die Stimme der Kirche ist m.E. weiterhin notwendig. Es ist aber nicht ihre Aufgabe, Politik zu machen, sondern für eine Werteorientierung in der Politik einzutreten.  Für die Kirchen wurzelt eine Grundvoraussetzung der Demokratie – nämlich die unantastbare Würde des Menschen - in seiner Gottebenbildlichkeit. Daraus erwächst die Verpflichtung, die Demokratie mitzugestalten und zu schützen. Dafür wiederum braucht es überzeugte und überzeugende Christen - Männer wie Frauen -  die sich als Gesprächspartner, als Handelnde, als Mitwirkende und Mitgestaltende in Demokratie und Gesellschaft einbinden lassen und sich politisch engagieren.

75 Jahre Grundgesetz – wahrhaft eine Erfolgsgeschichte, aber kein Grund, selbstgerecht die Hände in den Schoss zu legen. Unser aller Einsatz ist gefordert. Denn Demokratie ist leider kein Selbstläufer mehr und fällt nicht vom Himmel….

Ihr Pfarrer Franz Xaver Huu Duc Tran