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Blumen

Ostern 2024:„Sej a Mensch!“ - „Sei ein Mensch!“

Einer der berührendsten Momente in letzter Zeit war für mich die Rede des bekannten Sportjournalisten Marcel Reif, Sohn eines Holocaust-Überlebenden, die er anl. der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus Ende Januar im „höchsten deutschen Haus“, dem Bundestag, gehalten hat. Die Art und Weise, wie er von seinem Vater und dessen Vermächtnis erzählt hat, und die dadurch entstandene Stimmung hat mich zu Tränen gerührt. Ich weiß nicht genau warum, aber ich war emotional überwältigt, und damit war ich nicht alleine.

Ich fühlte mich mitgenommen, beinah als Teil seiner Geschichte, ganz dicht dran. Ich war fasziniert davon, wie Marcel Reif entgegen meiner Hörerfahrung mit ihm ruhig, mit Bedacht, unaufgeregt und in keinster Weise „staatstragend“ dieses Schweigen seines Vaters beschreibt - und ich war gespannt, begierig darauf zu erfahren, was an diesem Schweigen so besonders war. Satz für Satz entdeckte ich quasi mit ihm – wie in einem Buch, in dem sich nach und nach die Siegel öffnen – dass es kein verschämtes Schweigen, kein Totschweigen war oder ein traumatisiertes Schweigen, weil einem Worte fehlen. Weil einem Worte und die Kraft fehlen, um das Erlebte, die Unmenschlichkeit auszudrücken. Nein, es war ein anderes Schweigen, ein lebensermöglichendes Schweigen. Marcel Reifs Vater hat zeitlebens geschwiegen über seine Erlebnisse während der Nazizeit. Nichts hat er erzählt, weder von seiner eigenen Rettung noch von Menschen, denen er geholfen hat, noch von den Gräueltaten, die ihm persönlich widerfahren waren – aus dem Antrieb heraus, seinen Kindern eine Chance zu geben, unbelastet, unvoreingenommen aufwachsen zu dürfen, im Sinne eines Neustarts, einer zweiten Chance im Sinne von: alles hinter sich zu lassen, neu anfangen zu können und zu dürfen. Ein Stückchen Auferstehung – für beide Seiten, sowohl für Opfer wie für die Täter und deren Nachfolgegenerationen. Was aber nicht heißt, dass man daraus nichts lernen soll. Nie wieder – galt damals wie heute. „Nie wieder - Kann nur sein, darf nur sein, muss sein: gelebte unverrückbare Wirklichkeit“.

Er hat mit seinem Schweigen dem Land, dem deutschen Volk und seiner Familie eine zweite Chance gegeben auf ein friedliches Miteinander ohne neue Vorverurteilungen. Nicht in jedem Bäcker, nicht in jedem Postboten sollten seine Kinder einen potentiellen Mörder ihrer Großeltern sehen müssen und darunter leiden.

Was für eine Lebensleistung, was für eine Größe. Er muss doch innerlich irgendwo auch halbwegs versöhnt mit all den Erlebnissen gelebt haben, denn sich verstellen über eine so lange Zeit ist nahezu unmöglich. Nur gelegentlich wurde er überwältigt von quälenden Erinnerungen, blieb aber ungebrochen in seiner Fähigkeit, Liebe und Fürsorge zu geben und Lebensfreude auszustrahlen.

Irgendwann, aber dann beinah schlagartig, wurde Marcel Reif klar, dass sein Vater ja doch gesprochen hatte und ihm all das gesagt und mitgegeben hatte, was ihm wichtig war – als Essenz seines Lebens und seiner Lebenserfahrungen: Sei ein Mensch! Den Satz, den er so oft in dem warmen jiddisch „Sej a Mensch!“ zugesprochen bekommen hat - mal als Mahnung, als Warnung, als Ratschlag oder auch als Tadel.

Marcel Reif endet mit: „Und wenn sie es mir erlauben und wenn sie mögen… dann lasse ich ihnen den kleinen und doch so großartigen wundervollen Satz, den mein Vater, Leon Reif, gesagt hat, dann lass ich ihnen diesen Satz hier. „Sej a Mensch!“ „Sei ein Mensch!““

Was für eine zutiefst humanistisch christliche Botschaft steckt in diesem Satz.

Mit Leon Reif glaube ich an die unbändige und ungebrochene Fähigkeit des Menschen zur Versöhnung, zum Neuanfang, letztlich zur Auferstehung, und das nicht erst oder nur am Ende des Lebens, sondern mitten im Leben, und zwar immer und immer wieder. Leben bricht sich Bahn, wie die Osterglocken mit ihrem leuchtenden sonnigen Gelb, während die Welt ringsum noch in grauem Winterschlaf brach liegt.

Leben bricht sich Bahn. Immer wieder. Frohe und gesegnete Ostern!

 

Ihr Pfarrer Franz Xaver Huu Duc Tran